Die 2011 veröffentlichte LEO-Studie der Universität Hamburg brachte erstmals wissenschaftlich fundiert das wahre Ausmaß des Analphabetismus in Deutschland ans Licht (siehe Beitrag: Tabuthema Analphabetismus). Damals konnten 7,5 Millionen Menschen, mehr als 14 Prozent der Erwerbsfähigen, nicht richtig schreiben und lesen. Darunter waren 58,1 Prozent deutsche Muttersprachler. Diese Ergebnisse erschütterten nicht nur die Fachwelt, denn bis dahin ging man von 4 Millionen Betroffenen aus. Die Untersuchungen ergaben ebenso, dass über 13 Millionen in Deutschland lebende Erwachsene die Rechtschreibung, wie sie bis zum Ende der Grundschule unterrichtet wird, nicht richtig beherrschen. Die 2018 durchgeführte Folgestudie mit Deutsch sprechenden Personen im Alter von 18 bis 64 Jahren kam zu dem Ergebnis, dass noch immer 6,2 Millionen Menschen Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben haben. Darunter sind 52,6 Prozent deutsche Muttersprachler. Rund 11 Millionen zeigen weiterhin eine auffällig fehlerhafte Rechtschreibung.
Unter der Federführung der Kultusministerkonferenz haben daraufhin Bund und Länder eine „Nationale Strategie zur Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener in Deutschland für den Zeitraum 2012 bis 2016“ erarbeitet. Darin wurden die verschiedenen gesellschaftliche Kräfte und Institutionen gebündelt, beispielsweise der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung, der Deutsche Volkshochschul-Verband, die Stiftung Lesen oder die Bundesagentur für Arbeit. Das führte letztendlich dazu, dass das bisher verdrängte Thema (funktionaler) Analphabetismus in der Öffentlichkeit breit diskutiert und damit enttabuisiert wurde. Die „Nationale Strategie“ wurde in die „Nationale Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung 2016 bis 2026“ überführt, um weitere Kooperationspartner zu gewinnen. So sollen gering literarisierten Erwachsenen, die vormals als funktionale Analphabeten bezeichnet wurden, auch künftig Bildungsangebote unterbreitet werden, um deren Teilhabe am gesellschaftlichen Leben weiter zu verbessern.
Die Studienleiterin Dr. Anke Grotlüschen, Professorin an der Universität Hamburg, stellte die Ergebnisse der zweiten LEO-Studie im Juni 2019 auf Einladung des Landesnetzwerks Alphabetisierung und Grundbildung Sachsen-Anhalt in Magdeburg vor: „Es ist besser geworden, es sind 1,3 Millionen weniger.“ Querschnittsstudien ließen allerdings keine Aussagen darüber zu, warum die Ergebnisse so sind. Ausschlaggebend sei vermutlich eine veränderte Bevölkerungsstruktur mit einem größeren Anteil Erwerbstätiger mit einer durchschnittlich höheren Schulbildung. Ein großer Teil der „Nachkriegsgeneration“ der Geburtsjahrgänge 1946 bis 1952, die 2010 noch zum untersuchten Personenkreis zählten, seien 2018 nicht mehr Bestandteil der Studie gewesen. So würden sich die politischen Entscheidungen in der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Familien und Bildungspolitik auszahlen. Den größten Verdienst der nationalen Netzwerke für Alphabetisierung und Grundbildung sieht Grotlüschen darin, dass diese Initiativen die Diskussion in die Gesellschaft getragen haben und unbedingt weiterzuführen sind.
Zusammenfassung der Leo-Studie: https://leo.blogs.uni-hamburg.de
Text und Fotos: Jörg Bönisch