Eine im Frühjahr 2011 von der Universität Hamburg veröffentlichte Studie bringt das wahre Ausmaß des Analphabetismus in Deutschland ans Licht: 7,5 Millionen Menschen, mehr als 14 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung, können nicht richtig lesen und schreiben. Das sind fast doppelt so viele, wie bisher mit etwa vier Millionen angenommen wurde. In Sachsen-Anhalt leben über 200.000 Menschen, die vom funktionalen Analphabetismus betroffen sind. Sie können zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben, jedoch keine zusammenhängenden Texte. Zu den Analphabeten im engeren Sinne gehören über vier Prozent der Bevölkerung. Diese können lediglich einzelne Wörter lesend verstehen und schreiben. Für beide Gruppen ist eine würdige Teilnahme am gesellschaftlichen Leben nicht möglich. Sie stehen vor der schwierigen Herausforderung, alltägliche Situationen in unserer schriftgeprägten Welt zu meistern. Aus der Studie geht weiter hervor, dass über 13 Millionen der in Deutschland lebenden Erwachsenen die Rechtschreibung, wie sie bis zum Ende der Grundschulzeit unterrichtet wird, nicht beherrschen. Diese Personen würden das Lesen und Schreiben häufig vermeiden. Das macht einen Anteil von 25 Prozent an dieser Bevölkerungsgruppe aus.
Die alarmierenden Ergebnisse kommen einer Bankrotterklärung der deutschen Bildungspolitik gleich – das Bundesbildungsministerium spricht in einer Pressemitteilung von „fehlender ausreichender Grundbildung“. Ungeachtet dieser desaströsen Zustände werden Modellprojekte wie die frühkindliche zweisprachige Erziehung in Kindergärten, die Einführung der Grundschrift (bzw. Abschaffung der Schreibschrift) und Lesen durch Schreiben (bzw. schreib, wie du sprichst) unbeirrt fortgesetzt, obwohl sie umstritten sind. Statt dem Nachwuchs sprachliche Kompetenz mit bewährten erfolgreichen Lehrmethoden zu vermitteln, werden die Kinder zu Versuchskaninchen der inkonsistenten, föderalen Bildungspolitik. Aufbauend auf profunde Deutschkenntnisse mit einem breiten aktiven Wortschatz, ist es erfahrungsgemäß viel leichter, Fremdsprachen zu erlernen. Doch in den vergangenen zehn Jahren ist der während der ersten vier Schuljahre vermittelte Grundwortschatz von 1.100 Wörtern auf 700 gesunken, bestätigt Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. So beträgt der Anteil des Deutschunterrichts von der ersten bis zur zehnten Klasse nur 16 Prozent an den Wochenstunden und liegt damit weit unter den Werten des Muttersprachunterrichts in benachbarten europäischen Ländern. In den gymnasialen Klassenstufen liegt der Anteil des Deutschunterrichts oft bei nur drei Wochenstunden. Natürlich darf man nicht die ganze Schuld auf die Politiker und Lehrer schieben. Die Eltern haben eine ebensolche Verantwortung, die Sprachentwicklung ihrer Kinder zu fördern.
Bundesbildungsministerin Annette Schavan und der damalige Präsident der Kultusministerkonferenz, Bernd Althusmann, haben im Dezember 2011 eine gemeinsame nationale Strategie im Kampf gegen den Analphabetismus ins Leben gerufen und alle gesellschaftlichen Gruppen aufgefordert, sich dem Vorhaben anzuschließen. Mit einer öffentlichen Kampagne soll auf die ungenügende Grundbildung aufmerksam gemacht werden. Schavan stellt nüchtern fest: „Es gibt Analphabetismus in Deutschland in einer Größenordnung, die nicht mehr eine Nische darstellt.“ In einem ersten Schritt stellt der Bund für die Forschung und Entwicklung hin zur höheren Alphabetisierung und Grundbildung rund 20 Millionen Euro zur Verfügung. Weitere 35 Millionen Euro kommen aus dem Europäischen Sozialfonds. Als Startschuss für die Aktivitäten seitens des Landes Sachsen-Anhalt hat der Landesausschuss für Erwachsenenbildung in Zusammenarbeit mit dem Kultusministerium im November 2011 in Magdeburg eine Vortragsveranstaltung zu diesem Thema organisiert. Hier wurden die gesellschaftspolitische Brisanz der Situation und Lösungsmöglichkeiten diskutiert. Geplant sind weitere Veranstaltungen, die dazu beitragen, erst einmal überhaupt auf funktionale Analphabeten aufmerksam zu werden. Zugleich sollen Alphabetisierungskurse gefördert werden, heißt es aus dem Magdeburger Kultusministerium. Hier galt dieses Phänomen nach eigenen Angaben viel zu lange als eines der südlichen Halbkugel, nicht der entwickelten Länder.
An der repräsentativen Level-One-Studie (leo) der Universität Hamburg nahmen über 8.000 Personen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren teil. Darunter waren 58,1 Prozent deutsche Muttersprachler. Nach Angaben der Autorin der Studie, Prof. Dr. Anke Grotlüschen, liegen damit zum ersten Mal belastbare Zahlen über den Analphabetismus in Deutschland vor.
Zusammenfassung der leo-Studie: https://leo.blogs.uni-hamburg.de
Text und Foto: Jörg Bönisch